von Halid Akça, Juso Glarnerland
Liebe Leserinnen, liebe Leser
Kleider machen Leute. Nicht nur Gottfried Keller scheint diesen oberflächlichen Umstand vor knapp 150 Jahren erkannt zu haben, denn ebendiese Tatsache ist nun auch im Kanton Glarus von immer grösserer Aktualität. Wir stimmen an der Landsgemeinde über ein Verbot der Verhüllung ab. Der muslimische Niqab - der oft fälschlicherweise mit der vor allem in Afghanistan und Pakistan getragenen Burka gleichgesetzt wird – ist damit in den Mittelpunkt der Debatte geraten. Mitunter wird der Niqab geradezu zu einem Symbol von islamistischem Fanatismus und einer bedrohlichen Parallelgesellschaft hochstilisiert, vor allem von Vertretern des rechten Lagers. Aber weshalb scheint dieses Kleidungsstück erst jetzt so viele Gemüter zu erregen?
Niqabträgerinnen gab es auch in der Schweiz schon früher, und die meisten davon sind nach wie vor wohlhabende Touristen aus der Arabischen Halbinsel, ohne die ja bekanntlich so manches Geschäft an der Zürcher Bahnhofstrasse nicht mehr existent wäre. Ich möchte Sie ganz offen fragen: Wie viele Niqabträgerinnen haben Sie im Kanton Glarus schon gesehen? Ich persönlich gar keine, und ich bin oft unterwegs. Augenscheinlich haben wir also kein "Problem" damit (wenn es denn eines ist), und wer das bemerkt, erkennt auch rasch die Absurdität dieser ganzen Debatte: Es wird über etwas diskutiert, das gar nicht vorhanden ist. Wir haben keine Probleme mit dem Niqab.
Aber selbst wenn wir eines hätten, würde ich ein Verbot der Vollverschleierung aus nachfolgenden Gründen ablehnen: Ich verstehe zwar das Argument vieler, dass jede Art der Vollverschleierung die Würde einer Frau herabsetzt, denn Tatsache ist, dass ein beachtlicher Teil der betroffenen Frauen zum Tragen eines Niqab gedrängt wird; sei es von der sie umgebenden Gesellschaft oder ihren Ehemännern. Das ist definitiv ein Problem, denn jeder Zwang ist eine nicht hinzunehmende Herabsetzung der Menschenwürde. Es ist jedoch stark anzuzweifeln, ob wir den betroffenen Frauen mit einem Verbot helfen würden. Sie wären in der Situation, dass sie nicht einmal mehr das Haus verlassen könnten, ohne eine Busse befürchten zu müssen. Ein Verzicht auf die Vollverschleierung ist für diese Frauen ebenso keine Option. Das heisst, dass wir ihnen jede Möglichkeit der Integration und der Selbstbestimmung nehmen, indem wir sie in die Isolation verbannen. Die Förderung von Frauenorganisationen, welche Aufklärungsarbeit unter den davon betroffenen Frauen leisten, wäre naheliegenderweise sinnvoller als ein Verbot. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn es gibt auch Frauen, die bewusst und freiwillig den Niqab tragen; solchen Personen bin auch ich schon in meiner türkischen Heimat begegnet. Diese Frauen sind stolz auf ihren Niqab und tiefreligiös, sie schämen sich auch hier nicht, öffentlich zu ihrem Glauben zu stehen, obwohl sie täglich Anfeindungen und gar körperliche Angriffe erdulden müssen. Und wer sind wir, ihnen das Tragen einer bestimmten Art von Kleidung zu verbieten, mit dem fadenscheinigen Argument, der Niqab gehöre nicht zu unserer Kultur? Welche gehört denn überhaupt in unsere "westliche" Kultur? Wer behauptet, Kopftücher und Verschleierung seien unserer Heimat fern, sieht offenbar darüber hinweg, dass es bis vor kurzem auch bei uns üblich war, dass Frauen beim katholischen Gottesdienst eine Kopfbedeckung zu tragen hatten; dieser Brauch lebt bei vielen Ordensschwestern weiter. Konsequenterweise müssten also die Befürworter eines Verbotes auch den Nonnen im Kloster Einsiedeln klarmachen, ihre Verschleierung gehöre nicht zu unserer Kultur.
Wir dürfen nicht alles aus unserer einen, beschränkten Sicht betrachten, nur weil wir denken, unsere Art des Lebens sei die bessere. Nach der Islamischen Revolution im Iran wurde das Tragen von westlicher Kleidung unter Strafe gestellt, und jeder Mann und jede Frau, die von den iranischen Behörden mit Jeans oder Hemd gesichtet wurde, hatte und hat immernoch Bussen und Haftstrafen zu befürchten. Das klingt verrückt, und das ist es auch. Aber im Grunde wollen Teile der Schweiz genau das, einfach umgekehrt. Indem wir dasselbe tun, gefährden wir unser kostbares individuelles Selbstbestimmungsrecht und schüren zudem misstrauen unter uns allen. Es ist unabdingbar, dass die Schweiz (wie alle anderen Länder auch) gegen den uns alle gefährdenden radikalen Islamismus, der nicht mehr als ein perverses Zerrbild des Islams ist, kämpfen muss, aber damit hat der Niqab nichts zu tun. Er ist nur ein Stück Stoff, mehr nicht. Anzunehmen, jede Trägerin des Niqab sei eine potenzielle Gefahr, ist nicht minder zerrbildhaft und unwahr.
Aus diesen Gründen lehne ich dieses Verbot ab, und hoffe, dass das Glarner Stimmvolk es ebenso tun wird. Denn Kleider machen nicht Leute, sondern das, was darin steckt.
03.05.2017